Ein Gespräch mit Eveline Schneibel, Expertin für Begabungsförderung.

Eveline Schneibel, für Eltern ist das eigene Kind ja immer etwas Besonderes. Was aber, wenn es auch objektiv betrachtet über Begabungen verfügt, die diejenigen seiner Altersgenossen übertreffen?

Meine Erfahrung ist, dass es wichtig und richtig ist, ALLEN Eltern ernsthaft und sorgfältig zuzuhören. Sie kennen ihr Kind seit Geburt, beobachten und begleiten es hoffentlich liebevoll. Ist ein Kind weiter in seiner Entwicklung, fällt dies in der Regel schnell auf und führt zu Irritationen auf diversen Ebenen. Wenn sich Kinder auf verschiedenem Entwicklungsstand befinden und sich dessen noch nicht bewusst sind, kann es schwierig werden, sich untereinander zu verständigen – sowohl auf sprachlicher Ebene als auch in puncto Einfühlung. In einem solchen Fall ist es unerlässlich, dass umsichtige Erwachsene Brücken bauen. Aber auch für die Eltern ist diese Situation mit Schwierigkeiten verbunden. Sobald es nach aussen hin auffällt, dass das eigene Kind weiter ist in seiner Entwicklung, wird ihnen schnell unterstellt, dass sie dieses pushen. Das bewirkt, dass es plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist, sich mit anderen Eltern entspannt und differenziert auszutauschen. Sorgen werden dann oft als Luxusprobleme abgetan und nicht ernst genommen.


Welche Rolle spielt das Elternhaus bei solchen Kindern, welche die Schule?

Die Eltern sind die wichtigsten Menschen im Leben des Kindes. Ist es in seiner Entwicklung im Bereich der hohen Begabung, sind damit einige Herausforderungen verbunden, die andere Eltern so nicht kennen. Hohe Begabung geht mit recht herausfordernden Persönlichkeitsmerkmalen einher, die nicht mit jedem Erziehungsstil harmonieren. Die betroffenen Kinder sind sehr differenziert, präsent und empfindsam in ihrer Wahrnehmung und zugleich starke Persönlichkeiten. Sie denken eigenständig, neigen nicht zum Gehorsam, sind aber Weltmeister in echter Kooperation auf Augenhöhe. Eine spezifische Elternberatung hilft hier jeweils sehr, insbesondere wenn es in der Schule nicht immer passt.

Wie gut sich das Kind in der Schule aufgehoben fühlt, ist natürlich ebenfalls wichtig. Macht es hier die Erfahrung, dass es mit seinem Wesen nicht verstanden und akzeptiert wird, kann dies seine Entwicklung beträchtlich belasten. Ich erlebe es oft, dass Lehrpersonen willens wären, auch für Kinder mit einer hohen Begabung das Beste zu tun, aber dann an fehlendem Know-how und zu knappen Ressourcen scheitern. Besonders schlimm ist es für das Kind, wenn sich Eltern und Schule nicht einig sind und es zu gegenseitigen Schuldzuweisungen und Abwertungen kommt. Wenn eine hohe Begabung im Spiel ist, ist die ganzheitliche Integration auf allen Ebenen immer anspruchsvoll.  


Sie sind mit der Arbeit der Lipschule vertraut. Was machen Schulleitung und Lehrkräfte besonders gut im Umgang mit hochbegabten Kindern?

Ich kenne die Lipschule schon seit sehr vielen Jahren – sowohl aus der Perspektive der Mutter als auch als Fachperson. Grundsätzlich gibt es nicht die eine richtige und perfekte Schule für Kinder mit einer hohen Begabung, sondern es lohnt sich, auf eine individuelle Passung zu achten. Zentral finde ich die Bereitschaft der Schule, mit jedem Kind mit besonderen Bedürfnissen – ganz gleich wie diese gelagert sind – auch etwas Neues dazulernen zu wollen beziehungsweise sich wirklich auf das jeweilige Kind einzulassen.

Dies erlebe ich der Lipschule immer wieder auch in sehr speziellen Fällen, und die Erleichterung und Freude der Eltern und Kinder ist dann immer gross. Das Know-how im Umgang mit hoher Begabung ist eindeutig vorhanden und individuelle Anpassungen werden ohne viel Aufhebens umgesetzt. Es entsteht nie der Eindruck, dass ein Kind eine Zumutung ist, weil es Aufwand verursacht. Zudem erleben die Kinder in der Lipschule eine sehr weltoffene Haltung mit vielfältigen Anregungen, die weit über den üblichen Schulstoff hinausgehen. Wenn man zu Besuch kommt, sieht und merkt man sofort: Hier lebt es.

Als externe Fachperson schätze ich den offenen und gegenseitig wertschätzenden Austausch sehr. Wichtig ist für mich auch, dass bei Schwierigkeiten nicht gleich aufgegeben, sondern unkompliziert nach Lösungen gesucht wird. Die Kinder erleben so, dass es sich lohnt, persönliche Grenzen und Bedürfnisse auszudrücken, weil man gehört wird und dadurch vieles erst möglich wird. Wir sind uns alle stets einig, dass es in dieser lebhaften Lerngemeinschaft um das Wohl der Kinder gehen sollte, und setzen uns entsprechend für dieses ein.